Sei so wie du bist
Morgens um halb acht an einem kalten Herbsttag. Wieder auf das Fahrrad steigen und den Weg zur Schule nehmen. Eigentlich mag sie ja solche Tage, aber nicht, wenn sie weiß, dass es zur Schule geht und somit das ganze Theater wieder anfängt.
Könnte sie doch zu Hause bleiben und ihre Ruhe haben. All diese Blicke der Mitschüler sie versucht ihnen immer auszuweichen, cool zu wirken, die Leute nicht zu beachten. Auch am Geschehen um sie herum nimmt sie nicht gern teil. Lieber sitzt sie allein in der Ecke und lauscht ihren Liedern, die ihr ein Gefühl von Selbstsicherheit vermitteln.
Wenn sie dann doch zu den Unterhaltungen der Mitschüler beitragen will, versteckt sie sich hinter coolen Sprüchen, macht einen auf witzig und scheint vollkommen selbstsicher zu sein. Zurück zu Hause ist sie völlig erschöpft. Sie fällt in ihr Bett. Denkt nach.
Was haben die anderen heute wohl wieder von mir gedacht? Gibt es jetzt wieder mehr Leute, die mich hassen?
Nach einem unruhigen Mittagsschlaf widmet sie sich ihrem Computer und chattet mit ihren Freunden. Natürlich ist er wieder online. Er ist neben ihren besten Freunden derjenige, der sie am besten kennt. Wenn sie sich mit ihm schreibt, vergisst sie all ihre Vorsichtsmaßnahmen, die sie normalerweise trifft, um zu verhindern, dass andere Leute ihr zu nahe kommen.
Er ist derjenige, der sich für ihre wirklichen Gefühle interessiert, derjenige, der immer wieder versucht sie aufzumuntern, davon zu überzeugen, dass auch sie ein wunderbarer Mensch ist. Er bemerkt ihre Probleme, ohne dass sie diese ausspricht. Er ist derjenige, der sagt „sei so, wie du bist!“. Er ist derjenige… den sie liebt.
Doch das ist ihr größtes Problem. Wenn sie ihm in der Schule begegnet, lässt sie ihn links liegen oder fängt hinter seinem Rücken an, in passender Lautstärke wohl bemerkt, cool und lässig über ihn zu reden. Warum merkt sie in solchen Momenten nicht, dass sie andere Leute und vor allem ihn, denjenigen, den sie liebt, verletzt? Ist sie so gefühlskalt? Hat sie vielleicht Angst? Sie liebt ihn doch…
Wieder zurück zu Hause ist sie wie ausgewechselt. Sie hat ein schlechtes Gewissen, seinetwegen. Soll sie den Schritt tun und auf ihn zugehen, ihm sagen, dass es ihr leid tut? Sie ruft sich ihr Lebensmotto ins Gedächtnis: Erwarte nichts von anderen und du kannst nicht enttäuscht werden – für den Notfall, dass er ihre Entschuldigung nicht annimmt.
Hoffentlich ist er online. Zum Glück … Sie nimmt allen Mut zusammen und versucht so zu sein, wie sie wirklich ist. Das ist ja schließlich das, was er ihr immer wieder sagt. Sie fragt sich, ob er wohl die Entschuldigung annimmt … und wirklich – er verzeiht ihr. Er ist derjenige, den sie liebt, und in diesem Moment weiß sie warum: Er hat sie nicht enttäuscht. Er kennt ihre Gefühle und versucht ihr zu helfen.
Am nächsten Morgen um halb acht an einem kalten Herbsttag. Heute wird sie ihm wieder gegenüberstehen.
Anna Sieben (2005)